Zwei Wochen ist es her. Seit zwei Wochen herrscht Krieg in Europa.
Ich schwanke zwischen Fassungslosigkeit über das, was passiert, und Dankbarkeit für das, was ich habe. Meine Familie, mein Haus, meinen gesunden Körper, meinen warmen Kaffee in der Hand. Gleichzeitig habe ich ein schlechtes Gewissen, weil nicht weit von hier nichts mehr so ist, wie es einmal war.
Mein Beruf ist es, Menschen Orientierung zu geben. Vor allem jungen Menschen, die nach der Schule, nach der Ausbildung oder nach dem Studium nicht wissen, welcher der „richtige“ Weg für sie ist.
Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht, ob meine Arbeit unter den aktuellen Umständen (noch) gebraucht wird. Die Parameter verändern sich. Existenzen sind bedroht. Unser aller Zukunft wirkt noch ungewisser, als sie es spätestens durch Corona sowieso schon war.
Das Wort, das mich in diesem Zusammenhang begleitet, ist das Wort „Luxusproblem“.
Ist es in Anbetracht der Tatsache, dass die Pandemie von einem Krieg in Europa „abgelöst“ wird, ein Luxusproblem, sich mit Persönlichkeitsentwicklung und Berufsorientierung auseinanderzusetzen?
Können wir uns – und da schließe ich mich ausdrücklich mit ein ! – in dieser Welt noch leisten, uns selbstverwirklichen zu wollen? Beruflich erfüllt zu sein? Auch zu Lasten unserer finanziellen Effizienz und Sicherheit?
Ich finde diese Frage berechtigt. Obwohl oder gerade weil ich meinen Lebensunterhalt damit verdiene, dass Menschen Zeit und Geld darin investieren, ihren Weg zu finden.
Meine Antwort ist: Ja, es ist ein „Luxusproblem“. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und das nicht erst jetzt. Denn dieses Problem der Entscheidungsfindung und Orientierungslosigkeit hat nur, wer in Freiheit lebt. Wer Optionen hat oder sich welche schaffen kann.
Wer seine Heimat verlassen muss und um sein Leben bangt, hat nicht den Luxus dieses Problems.
Und trotzdem: Solange wir diese Freiheit haben, uns zu entfalten und unseren Weg zu gehen, halte ich es für wichtig und richtig, das auch zu tun!
Und wer es als schwierig empfindet, darf auch weiterhin so empfinden! Denn es ist schwer. Es macht Angst, nicht zu wissen, wo man hin will. Und es ist in Ordnung, darunter zu leiden. Wir dürfen suchen, wir dürfen verunsichert sein und ab und zu auch verzweifelt. Wir dürfen ausprobieren und scheitern und neue Wege gehen. Das alles darf sein.
Das einzige, was heute noch wichtiger ist als gestern, ist das Wort MACHEN.
Was wir uns nämlich nicht mehr leisten können (siehe Pandemie, siehe Ukraine, siehe Klima, etc.), ist, aus Angst NICHT zu handeln. Stehen zu bleiben. Aus Vorsicht in unserer Komfort-Höhle sitzen zu bleiben.
Ich bin zu 100% davon überzeugt, dass jede/r von uns besondere Gaben hat. Diese passen häufig nicht zusammen mit traditionellen Berufsbildern, weshalb die berufliche Orientierung so schwierig sein kann.
Aber die Welt braucht unsere individuellen Gaben heute mehr denn je.
Und das ist der Schluss, zu dem ich komme: Persönlichkeitsentwicklung, persönliches Wachstum und Selbstverwirklichung sind dann genau richtig in dieser Welt, wenn wir es damit schaffen, unsere Gaben nach außen zu bringen und fürs Kollektiv sinnvoll einzusetzen. Ganz egal durch welchen Job.
Dieser Luxus der Orientierungslosigkeit darf also nur kein Selbstzweck sein, sondern die authentische Suche danach, was wir, und nur wir, der Welt zu geben haben.