Da steht dieser große Mann selbstbewusst und stark im Raum und erzählt, dass er seit seiner Kindheit immer wieder in Kämpfe verwickelt worden sei. Er könne sich aber nicht so richtig erklären, warum.
Ob er physische oder verbale Kämpfe meint, wird nicht ganz klar – beides ist ihm zuzutrauen. Dabei ist er überhaupt nicht aggressiv! Er ist Vater von drei kleinen Kindern, er hat eine sehr nette Frau an seiner Seite, sein Umgang ist höflich und freundlich. Aber was er selbst nicht sieht, sehen wir alle: Er hat diese leicht provozierende Aura, die sagt „Ich bin bereit, mich zu verteidigen“.
Ich bin an diesem April-Wochenende nach Charlotte, North Carolina, geflogen, um an einer Enneagramm-Fortbildung teilzunehmen mit dem Thema: „The Journey of Growth“.
Wir beschäftigten uns mit der Frage, wie jeder der neun Enneagramm-Typen persönlich wachsen kann. Also genau das Thema, das mich und meine Klienten täglich beschäftigt.
Denn dafür ist das Enneagramm ja da. Das Wissen um unseren Typ soll uns auf unserer persönlichen Reise helfen, in unserem persönlichen Wachstum unterstützen.
Die Selbsterkenntnis ist dabei der erste und wichtigste Schritt. Und wie wir an dem Beispiel des Mannes mit der „Kämpfer-Aura“ sehen, ist dieser Schritt schon nicht so ganz einfach.
Im Enneagramm ist er klar im Typ 8, dem Herausforderer, zu finden. Und auch wenn er das weiß, sind ihm viele seiner typischen Muster (noch) nicht bewusst: Seine extreme physische Präsenz, seine „Leg Dich nicht mit mir an“-Aura, seine herausfordernde Art, die sogar zu spüren ist, wenn er sich selbst als total relaxed empfindet. All das versuchen wir ihm in diesen Tagen von außen spiegeln, aber es fällt ihm schwer, es selbst zu sehen.
Das ist ja eben die Krux mit unseren Mustern: Wir gehen schon so lange mit ihnen durch die Welt, dass sie uns gar nicht mehr auffallen.
Ein anderer Teilnehmer, auch Typ 8, wirkte dagegen völlig entspannt. Viele kannten ihn aus einem Workshop zwei Jahre zuvor und konnten seine Veränderung kaum fassen. „Wie hast Du das geschafft?“, fragten sie ihn. Seine Antwort: Durch die Arbeit mit dem Enneagramm sei ihm überhaupt erst bewusstgeworden, dass auch er diese Kämpfer-Ausstrahlung hatte.
„Mir wurde plötzlich klar, dass ich mir in jeder Lebenslage automatisch einen ‚Gegner’ suchte. Das konnte ein inkompetenter Kollege, eine unhöfliche Nachbarin oder ein schlecht erzogener Neffe sein. Diese ‚Gegner’ sind das, was mir automatisch Energie gab und worüber ich mich definierte.“
Mit dieser Selbsterkenntnis ist er also aus dem letzten Workshop gelaufen. Und dann?
Die gute Nachricht zuerst: Der Schritt nach der Selbsterkenntnis ist natürlich nicht das Aufgeben unserer Persönlichkeit.
Wenn ich in einen Raum hineingehe und allein mit meiner physischen Präsenz wirken kann, warum soll ich das ablegen? Wenn Menschen meine Stärke spüren – warum soll ich versuchen, sie zu verstecken?
It’s all about the Muster.
Das Zauberwort hier ist „bewusst“. Wenn ich meine Präsenz und starke Ausstrahlung (als Typ 8) bewusst einsetze, um zum Beispiel als Führungskraft meinem Team das Vertrauen zu geben, dass wir die nächste Aufgabe gemeinsam meistern werden, dann ist das eine authentische Qualität, für die andere lange arbeiten müssen.
Wenn ich meine starke Ausstrahlung aber immer und überall unbewusst versende, um zu zeigen, dass ich das Alphatier bin, dann kann das durchaus problematisch werden. Nicht umsonst wird der Teilnehmer in dem Beispiel oben seit seiner Kindheit in Auseinandersetzungen hineingezogen. Er sucht danach, ohne es zu merken.
Üben, üben, üben
Auch der entspannte Typ 8 erzählt von Situationen in seinem Büro, in denen er seine Kräfte (und die oft einhergehende Wut) nach wie vor schlecht im Zaum halten kann. Aber er weiß, dass er es selbst in der Hand hat und übt im Alltag immer wieder, seine herausfordernde Art – wie mit einem unsichtbaren Regler – höher oder niedriger zu stellen.
Das klingt sehr viel einfacher als es ist. Es braucht sehr, sehr viel Übung und sehr, sehr viel Zeit.
Lohnt sich dann überhaupt die ganze (Persönlichkeits-) Arbeit?
Ja!! Weil wir dadurch eine Wahl bekommen. Anstatt mit unserer starken Präsenz unbewusst zu provozieren oder zu dominieren (Typ 8), können wir unsere Stärke situativ bewusst einsetzen, um z.B. unser Team zu unterstützen. Anstatt uns (als Typ 1) durch unseren Fokus auf Perfektion selbst verrückt zu machen, können wir mit etwas mehr Leichtigkeit Dinge optimieren und dann an einem bestimmten Punkt auch die schöne Erfahrung zulassen, mit unserem Werk zufrieden zu sein. Anstatt uns darüber zu ärgern, dass wir für eine Entscheidung wieder endlos Zeit brauchen, weil wir alle Seiten abwägen (Typ 6), können wir diese Stärke für wichtige Kopf-Entscheidungen nutzen und dafür in kleineren Entscheidungen unserer Intuition mehr Raum geben.
Diese Wahl haben wir aber erst, wenn wir einen Schritt zurückgehen und uns bewusstmachen, auf welchen Mustern und Automatismen wir normalerweise funktionieren.
Der Teilnehmer mit der Kämpfer-Aura sagte mir, dass er nicht mehr wisse, wer er sei, wenn er sich so sehr zurücknimmt. Und diese Angst verstehe ich gut.
Aber wir müssen nichts aufgeben, wenn wir anfangen, an uns zu arbeiten. Wir müssen nichts ablegen.
Im Gegenteil: Wenn wir uns trauen, so genau hinzusehen, haben wir plötzlich eine Wahl.
Und dafür lohnt sich die ganze Arbeit.
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