Heute mache ich Dich bekannt mit einer Stimme in mir. Ich trage sie schon lange mit mir herum, aber ich komme ihr momentan ganz bewusst auf die Schliche! Das muss ich auch. Denn sie hält mich vom Erreichen meiner Ziele ab. Vielleicht kennst Du diese Stimme auch von Dir?
Überall ist zu lesen und zu hören von dem Inneren Kritiker, der uns in jeder Situation zur Perfektion ermahnt: „Nur 100% ist gut genug!“ „Gib Dir mehr Mühe!“ „Noch nicht aufhören – da geht noch mehr!“
Wir alle kennen ihn. Diesen Drang nach Perfektion.
Als Enneagramm-Coach weiß ich, dass vor allem Typ 1 damit ein Thema hat… Aber dazu ein anderes Mal mehr.
Den Schweinehund, um den es heute geht, kenne ich schon gaaaaanz lange. Für diesen Blogpost habe ich ihm jetzt einen Namen gegeben:
Es ist mein „70% Schweinehund“.
Das erste Mal habe ich ihn ganz bewusst wahrgenommen auf einem Coaching-Seminar in Barcelona. Das ist ungefähr 10 Jahre her.
Wir waren in einem Kletterpark. Und die vorletzte Aufgabe in dem Parcours bestand darin, (natürlich gesichert!) einen 10m-hohen Holzpfahl hochzuklettern.
Auf 7 Metern war ein erster Stopp, sozusagen das „Basislager“.
Unsere Aufgabe bestand darin, bis zu diesem „Basislager“ zu klettern – ODER ganz nach oben auf den Pfahl.
Es war nicht besonders schwer, auf die 7 Meter zu kommen, auch wenn ich – oben angekommen – schon ordentliches Herzklopfen hatte…
Als ich also dort oben stand, kam von unten die Frage: „Möchtest Du ganz nach oben? Oder kommst Du wieder runter?“
In DIESEM Moment – 7 Meter über dem Boden – hatte ich mein erstes bewusstes Gespräch mit meinem 70% Schweinehund.
Er sagte: „Eigentlich reicht es doch bis hier hin! Das ist doch schon sehr hoch! Warum sollst Du Dich noch mehr anstrengen? Dich noch mehr überwinden? Brauchst Du doch gar nicht.“ Und ganz hinterhältig: „Das hast Du doch gar nicht nötig, Dir das zu beweisen…!“
Ich weiß noch ganz genau, dass ich da oben stand und vollkommen überrascht war davon, wie bekannt mir diese Stimme war. Die „ach, reicht doch eigentlich bis hier“-Stimme.
Diese 70% Stimme ist Segen und Fluch zugleich.
Ein Segen ist sie….
… wenn ich am kommenden Samstag ein kleines AMATEUR-Haus-Konzert spiele. Ich habe mit dem Instrument wieder angefangen, weil es mir in meiner Jugend großen Spaß gemacht hat. Und wenn ich am Samstag vor den anderen erwachsenen Schülern meiner Lehrerin ein Stück vorspiele, kommt es WIRKLICH auf nichts an. Okay, komplett blamieren möchte ich mich nicht. Aber ich muss auch nicht Tag und Nacht üben – das wäre mit meinen Lebens-Prioritäten organisatorisch und moralisch nicht in Einklang zu bringen.
In dieser Situation lobe ich mir meine „Ach, reicht doch eigentlich bis hier“-Stimme. Diese fatalistische Grundhaltung ermöglicht es mir, einem Hobby nachzugehen, ohne Berliner Philharmoniker-Ambitionen zu entwickeln. Ich kann es einfach genießen.
Ein Fluch ist diese Stimme….
… wenn sie mich daran hindert, Dinge richtig gut zu machen, die mir WIRKLICH wichtig sind. Zum Beispiel habe ich letztes Jahr einen Vortrag gehalten. Und aus welchen Gründen auch immer habe ich mir die Zeit nicht genommen, mich richtig gut darauf vorzubereiten. „Ach, das wird auch so gut genug sein. Stress Dich jetzt nicht. 70% reichen auch,“ hat die Stimme gesagt, und ich habe ihr geglaubt. Warum?
Der 70% Schweinehund ist der kleine Bruder der Perfektion.
Manchmal ist diese 70% Stimme Ausdruck von Angst, dass ich es nicht gut genug machen werde. Nicht gut genug machen kann.
Sie drückt meine Angst aus, es nicht perfekt machen zu können.
Bevor ich also 95% gebe und dann trotzdem „versage“, gebe ich lieber nur 70%.
Natürlich reichen die 70% auch oft. ABER es gibt Ziele, die ich nur erreichen werde, wenn ich mich traue, die 99% anzupeilen. Punkt.
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Das liegt nicht nur daran, dass ich mich dann mehr pushe und fleißiger bin, sondern auch daran, dass ich in diesem Bereich ganz sicher auch Fehler machen werde. Und genau das ist eine extrem wichtige Erfahrung, die mich weiter bringt als das Erreichen von hundert 70%-Zielen.
Wie immer liegt die Lösung in der genauen Betrachtung und der bewussten Entscheidung.
Wenn sich mein 70% Schweinehund meldet, höre ich heute sehr genau hin:
Hilft er mir, Dinge locker zu nehmen, die in meinen Lebens-Prioritäten nicht weit oben liegen? Wie bei dem Hauskonzert? ODER hindert er mich daran, hoch gesteckte Ziele zu verfolgen, die für mich und meine Lebens-Prioritäten extrem wichtig sind?
Hilft er mir, Dinge entspannt anzugehen und zu genießen? ODER ist er nur Ausdruck von Angst vor Versagen und hindert mich daran, Größeres zu wagen?
BASISLAGER oder SPITZE?
Bleibt noch zu berichten, wie meine innere Konversation auf 7 Meter Höhe ausging.
Ich war kurz davor, der Stimme nachzugeben und mich wieder herunter holen zu lassen. ABER der Wunsch, mich (diesmal) über diese Stimme hinwegzusetzen, siegte.
Ich kletterte – etwas umständlich – bis auf die Spitze des Pfahls.
Und auch wenn dieses Ziel keine große Wichtigkeit für mein Leben hatte: Es fühlte sich fantastisch an.