Im Sommer 1996, ich war gerade 16 geworden, verbrachte ich vier Monate in einer Gastfamilie in Frankreich. Vier laaaaange Monate.
Was für viele Jugendliche ein tolles Abenteuer gewesen wäre, war für mich einfach… keins.
Das Schlimmste an meinem Aufenthalt dort war allerdings mein Entscheidungsweg dorthin.
Das „Wir können Dir das ermöglichen!“ meiner Eltern hatte ich als „Du musst das unbedingt machen!“ bewertet. Und während sie dachten, sie täten mir einen großen Gefallen, fühlte ich mich in der Pflicht zu fahren.
Anstatt also meiner eigenen inneren Stimme zu folgen, die sagte: „Bleib zuhause! Was willst Du dort? Du wirst nur Heimweh haben!“ unterdrückte ich sie und zog es durch.
Und das sollte weiß Gott nicht das letzte Mal bleiben.
Dieses Muster: meine eigene Stimme zu unterdrücken, um ausgesprochenen und unausgesprochenen Erwartungen meiner Außenwelt zu entsprechen, zog sich wie ein roter Faden durch mein Leben.
Ich würde sogar sagen: ich habe dieses Muster über die Jahre perfektioniert!
Zu meinem ganz großen Nachteil.
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Was bleibt einem ohne innere Stimme?
Die pure Verunsicherung.
Cut! Weihnachten 1996: Ich war wieder zu Hause – puuuuh.
Aber plötzlich wurde alles um mich herum sehr dunkel.
Als hätte meine innere Stimme nach der Frankreich-Erfahrung gesagt: „Weißt Du was? Wenn Du mich sowieso ignorierst, dann versuch’s halt ganz ohne mich. Du wirst schon sehen, was Du davon hast!“
In der 12. Klasse schrieb mein Deutschlehrer unter einen meiner Aufsätze: „Eine eindrückliche Beschreibung einer Depression“. Ich glaube nicht, dass er wusste, wie recht er hatte. Aber er gab mir 15 Punkte – immerhin.
Überhaupt habe ich in diesen Jahren extrem gut funktioniert. Das war nicht das Problem. Sehr gutes Abitur, im Sport so gut wie nie zuvor, Studium, weitere Auslandsaufenthalte, nebenbei gearbeitet und große Projekte gestemmt… Ich hatte auch Freunde, Partner, und ja, ich habe auch gelacht.
Denn auch das habe ich auf meinem Weg perfektioniert: Nach außen funktionieren, obwohl es innen ganz dunkel ist.
Die Qual der Wahl.
Das, was meine Eltern (selbst noch Kriegskinder) zurecht als unendliche Chancen und Freiheiten sahen, empfand ich als Qual.
Und so wäre die Überschrift der nächsten Jahre wohl „Orientierungslosigkeit“ gewesen. Ich weiß nicht, wie viele verschiedene Praktika ich gemacht habe, wie viele Studienfächer ich im Kopf anfing und wieder verwarf, in wie vielen Städten ich dachte, zuhause zu sein oder zuhause sein zu sollen.
Ich brach mein Studium ab, „um erstmal zu arbeiten“. Als ich entschied, das Studium doch noch durchzuziehen (in Passau), zog ich nach Berlin. Nicht gerade um die Ecke, aber es demonstriert meine innere Rast- und Ratlosigkeit.
In Berlin lebte ich das Leben anderer mit. Das passiert sehr schnell, wenn man selbst nicht weiß, wo man hin will. Man hängt sich einfach an Menschen dran, die selbst intensiv leben – dann fällt es einem nicht so auf, dass die eigene Erfüllung fehlt…
Meine Eltern gaben mir in dieser Zeit alle Freiheiten, mischten sich nie in meine Entscheidungen ein. Sie vertrauten mir voll. Aber auch damit konnten sie mir nicht das Selbst-Vertrauen schenken, das mir fehlte.
Jede anstehende Entscheidung schien mir ins Gesicht zu lachen und zu sagen:
Das hast Du jetzt davon, Mädchen ohne Stimme!
Ziemlich fies eigentlich.
Heute stelle ich mich diesem Lachen entgegen und schreie selbstbewusst:
WIE DENN AUCH – VERDAMMT?
Wie zum Teufel sollte ich als Mädchen, als Jugendliche, als junge Frau wissen, was meine Innere Stimme sagt?
Wie lernt man denn, sich selbst zu hören und sich dann auch noch selbst zu vertrauen?
Wie lernt man, seine eigenen Wünsche von den Erwartungen der Außenwelt zu trennen und der eigenen Stimme zu folgen?
- Woher weiß ich mit 16, welche Ausbildung ich machen möchte?
- Wie motiviere ich mich mit 17 zu einem guten NC, wenn ich keine Ahnung habe, was ich nach dem Abitur damit machen möchte?
- Wie entscheide ich mich mit 18 für einen Studiengang, wenn ich noch keine (Lebens-)Ziele habe?
- Wie soll ich mit Anfang/Mitte 20 Lebensziele haben und meinen Traumberuf wählen, wenn mein Leben gerade erst richtig anfängt?
Wie unterscheide ich als junger Erwachsener das Wollen vom Sollen, wenn es mir niemand beigebracht hat?
Im Nachhinein ist man immer schlauer.
Heute kann ich sagen, wie es mir über die letzten zehn Jahre gelungen ist: Mit sehr, sehr viel Selbstarbeit. Mit Hilfe von Mentoren, Coaches, Freunden und viel Liebe von meiner Familie. Mit Disziplin. Mit Menschen, die mich zu den richtigen Momenten inspiriert haben. Und sicherlich auch mit etwas Glück.
Vor allem aber mit einem unglaublichen Willen zu wachsen und mich mutig auf die schwierigste aller Fragen einzulassen: Was will ich wirklich?
So sehe ich es heute fast als Glück an, dass ich schon mit 17 erfahren habe, wie dunkel es um einen herum werden kann, wenn man sich selbst nicht (zu)hört. Denn so hatte ich keine andere Wahl, als mich auf meinen Weg zu machen.
Glücklicherweise ist es nicht für jeden eine solch dunkle Erfahrung, aber als Coach weiß ich, dass wir alle früher oder später an diesen Punkt kommen, an dem wir uns der Frage „Was will ich wirklich?“ stellen müssen.
Und ich sehe bei den Abiturienten und Studierenden von heute, dass dieser Punkt immer früher kommt.
(> siehe deshalb mein neues Angebot „MY. WAY.“ speziell für diese Altersgruppe)
In meinen Augen liegt das an einem wachsenden Bewusstsein für Sinnfragen, an unserer (über)informierten Gesellschaft, aber auch daran, dass es so unfassbar viele Optionen gibt.
Diese Grenzenlosigkeit ist Segen und Fluch zugleich.
Natürlich gibt es immer die, die genau wissen, was sie wollen. Egal wie viele Optionen sie haben.
Aber es gibt eben auch viele, die (noch) nicht wissen, was sie wollen!
Und es ist mein Herzensziel, genau jene auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen zu mehr Orientierung und Selbst-Bewusstsein zu verhelfen.
Ihnen und Dir möchte ich sagen, was ich gerne früher gehört hätte:
- Es ist in Ordnung, wenn Du Dich (noch) nicht hörst! Es ist in Ordnung, dass Du noch nicht weißt, was Du willst und wo Du in 30 Jahren sein möchtest!
- Es ist ein lebenslanger Prozess herauszufinden, wer wir sind, was wir können und wo wir hinwollen. Also tu Dir einen Gefallen und fang langsam an.
- Aber fang an. Fang langsam und mutig an, Dich mit Dir und Deinen Wünschen und Träumen zu beschäftigen. Stell Dir selbst die wichtigen Fragen. Nimm die Stimmen in Deinem Kopf wahr und fang an, Deine ganz eigene Stimme herauszufiltern.
- Gib Dir dabei Zeit und Raum zum Ausprobieren. Zeit und Raum für Umwege und Irrwege. Für „falsche“ Entscheidungen. Sie alle sind wichtige Schritte zu Deinen ganz persönlichen Antworten.
- Hol Dir Unterstützung, wenn Du alleine nicht weiterkommst. Vertraue Dich jemandem an und schau, welche Antworten kommen, wenn Du Dich öffnest und verletzlich zeigst.
Und last but not least:
Bleib mutig. Bleib präsent. Bleib hier.
Es lohnt sich. Versprochen.